- Weltkrieg, Zweiter: Eine Bilanz
- Weltkrieg, Zweiter: Eine BilanzDer größte Land-, Luft- und Seekrieg der Geschichte forderte Opfer, die alles Bisherige in den Schatten stellten. Nach abgerundeten Schätzungen, die freilich erheblich voneinander differieren, lag die Zahl der Toten und Vermissten des Zweiten Weltkriegs bei insgesamt 55 Millionen. Im Verhältnis viel höher als in allen bisherigen Kriegen war in diesem »totalen Krieg« der Anteil der getöteten Zivilisten: durch Luftangriffe, Partisanenkämpfe, Massenvernichtungen, Arbeits- und Konzentrationslager, Erschießungen, Racheakte, unmittelbare Kriegseinwirkungen, Besatzungsherrschaft, Flucht, Deportation und Vertreibung kamen mehr als 25 Millionen Zivilisten um, darin eingeschlossen die 5 bis 6 Millionen Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns. Hinzu kamen Millionen von Kriegsversehrten und Krüppeln, deren Leben durch den Krieg zerstört war. Bei der Aufgliederung nach Nationalitäten fällt auf, dass der Anteil der getöteten Zivilpersonen dort besonders hoch war, wo die deutsche und japanische Besatzungsherrschaft und die im Osten vorrückenden Sowjetarmeen ihre Spuren hinterlassen haben. Die enorm hohen materiellen Kriegsschäden dürften ebenso wie die finanziellen Kosten kaum zuverlässig aufzurechnen sein. Der Zweite Weltkrieg hat in Europa Millionen Menschen jeden Alters meist unter Zwang und Terror und unter unsagbarem persönlichen Leid in Bewegung gesetzt. Schon in der ersten Kriegsphase wurden 9 Millionen Menschen in dem von Hitler beherrschten Europa »zurückgesiedelt«, »umgesiedelt«, »eingedeutscht«, »umgevolkt« oder einfach verschleppt. Das »Jahrhundert der Flüchtlinge« war geprägt durch die Umsiedlung Volksdeutscher »heim ins Reich« von 1939 bis 1944, die Zwangsumsiedlung von Polen 1939/41 ins Generalgouvernement und durch die Sowjets nach Nordrussland, die Deportation von Volksdeutschen und »unzuverlässigen« Völkern 1941 durch Stalin nach Sibirien, die Zwangsrekrutierung von etwa 9 Millionen »Fremdarbeitern« für die deutsche Kriegswirtschaft und am Ende von etwa 12 Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten und Südosten Europas. Etwa 30 Millionen Europäer, darunter 60 Prozent Deutsche, sollen durch den Krieg ihre Heimat verloren haben. Der Krieg hatte Familien auseinander gerissen, über Jahrhunderte gewachsene Siedlungsgemeinschaften und Sozialmilieus zerstört und viele Millionen entwurzelt. Auschwitz, Dresden, Hiroshima, Nagasaki — jedes dieser Ereignisse steht für sich und kann nicht gegen das andere aufgerechnet werden. Sie dokumentieren insgesamt das ganze Ausmaß von moderner Gewaltanwendung, Zerstörung und Verrohung, das dem Zweiten Weltkrieg seine spezifische Prägung gegeben hat. Folgenschwer war auch die politische Bilanz dieses Kriegs. Mit der bedingungslosen Kapitulation schied Deutschland als Großmacht aus dem europäischen Mächtekonzert aus und verlor ein knappes dreiviertel Jahrhundert nach der Gründung wieder seine Einheit als Nationalstaat — für die kommenden 44 Jahre. Der Schwerpunkt des internationalen Geschehens verlagerte sich nun weg von Europa auf die Flügelmächte, die USA und die Sowjetunion. Mitten durch Europa zog sich jetzt ebenso wie quer durch Korea ein »Eiserner Vorhang«. In den blutigen chauvinistischen und imperialistischen Exzessen des Zweiten Weltkriegs erreichte die im Europa des 19. Jahrhunderts entfaltete Nationalstaatsidee ihre äußerste Perversion; und doch vermittelten gerade die Erfahrungen dieses Kriegs mit der Atlantikcharta vom 14. August 1941, der Gründung der Vereinten Nationen (UNO) in San Francisco am 26. Juni 1945 und den Entwürfen für ein vereintes Europa jene entscheidenden Impulse, um den Nationalstaat langsam zu überwinden, die alten Gräben zwischen den Nationen — etwa zwischen Deutschland und Frankreich — zuzuschütten oder zumindest zu überbrücken und so etwas wie eine globale Friedensordnung zu errichten. Ging der Schock des ersten »totalen Kriegs« in der Geschichte offenbar trotz hoffnungsvoller Ansätze im Völkerbund und in den zahlreichen Entwürfen für eine europäische Ordnung nicht tief genug, um der Welt mehr als dreizehn Friedensjahre bis zum Einfall der Japaner in die Mandschurei am 18. September 1931 zu vergönnen, so hat die zwischen 1939 und 1945 freigesetzte zerstörerische Kraft der modernen Technik bis hin zum Einsatz von Kernwaffen einen Prozess des Umdenkens ausgelöst, der den kriegerischen Austrag globaler internationaler Streitigkeiten bis heute als selbstmörderisch verhindert hat. Das schloss nicht aus, dass ab 1945 viele kleinere und mittlere »konventionelle« militärische Konflikte und »Stellvertreterkriege« ausgetragen wurden.Prof. Dr. Bernd-Jürgen Wendt, Hamburg
Universal-Lexikon. 2012.